Grünkohl mit Pinkel

„Das ist also der Neue von Jasmin.“ Meine Gartennachbarin Frau B. hat sich vor mir aufgebaut und deutet mit einem Augenzwinkern über meine Schulter in Richtung Grünkohlbeet.
Ich mime die Ahnungslose. Seit meine kleine Jasmin in der hormonell dominierten Lebensphase, die gemeinhin Pubertät genannt wird, zum Fräulein Tochter mutiert ist, verliere ich in ihrem Freundeskreis schon mal den Überblick.
Beim Grünkohl hockt ein junger Mann mit Vollbart und Dutt. Er hat bei seiner Vorstellung angegeben Philosophie zu studieren. Er beabsichtigt unseren Heimatort in eine essbare Stadt zu verwandeln. Dazu will er mit anderen jungen Leuten in allen öffentlichen Grünanlagen Gemüse und Obst pflanzen. Im Internet sind angeblich viele junge Menschen von dieser Idee ganz begeistert. Aber offenbar sind in unserer Stadtverwaltung nicht genug Philosophen am Werk. So ist die Idee von der essbaren Stadt bisher virtuell, zumindest außerhalb unserer Schrebergärten.
Der Grünkohl ist im vergangenen Jahr unerwartet gut gediehen.
„Das Grünkohl Frost bekommen muss, ist übrigens ein weitverbreiteter Irrtum. Es reicht völlig, wenn es kühl ist und die Sonne scheint. Bei niedrigen Temperaturen verlangsamt sich der Stoffwechsel der Kohlpflanze und der durch Fotosynthese hergestellte Zucker wird in den Blättern eingelagert“, doziert unser bärtiger Erntehelfer.
Wir entzünden Holzscheite in der Feuerschale, hängen den Kessel darüber und dünsten 400 g Zwiebelwürfel in Rapsöl an. Nach und nach werden ungefähr drei Kilogramm Grünkohlblätter und sechs Körner Piment dazugegeben und hin und wieder einen Schwapp Wasser mit jeweils einem Teelöffel gekörnter Gemüsebrühe. Es ist immer gerade so viel Flüssigkeit im Kessel, dass der Kohl nicht anbrennt.
Der Kohl braucht eine halbe Stunde. Die olivgrüne leicht ins bräunliche gehende Farbe zeigt, wenn er gar ist. Wir würzen mit Pfeffer und Salz.
Nach und nach treffen weitere potentielle Grünkohlesser ein. Frau B. schleppt frisch gekochte Kartoffeln heran und will ein großes Stück Kasseler spendieren. Die jungen Leute lehnen dankend ab. Immerhin die Kartoffeln sind willkommen.

„Grünkohl schmeckt doch gar nicht ohne Fleisch.“ Versucht Frau B. ihr Kassler wieder ins Spiel zu bringen.

Das Fräulein Tochter verweist ein wenig schnippisch auf einen Zehnerpack Würste. „Wir haben hier vegane Pinkel.“

„Ihr habt was?“

Bevor Frau B. diesen Faden weiterspinnen kann, frage ich: „Pinkel? Sind das nicht Grützwürste?“

„Genau, Mama.“

„So mit Hafergrütze, Gewürzen, Zwiebeln, Schmalz und Speck?“

„So ähnlich Mama, Getreide, Soja, Senf, Sellerie, Zwiebeln und Gewürze sind drin.“ Das Fräulein Tochter lächelt gnädig.

Die ersten Bierflaschen werden geöffnet. Es wird natürlich über die essbare Stadt philosophiert. Die Pinkelwürste liegen vom Kohl bedeckt im Kessel. Schon bald ist die Mahlzeit bereit und wird auf Suppentellern verteilt. Fast alle geben Senf dazu und beinahe hätte mir Fräulein Tochters neuer Freund das letzte Würstchen vor der Nase weggeschnappt, der feine Herr.

 

12 Gedanken zu “Grünkohl mit Pinkel

  1. Zufälle gibt es:
    Erst gestern habe ich mich mit meinem Kollegen über die postindustrielle Nutzung unserer Städte unterhalten. „Essbare Städte“ (die Bohne im Kreisverkehr), Stadtguerillas (Nutzung von Brachflächen) und Wintergartenanbauten an Mietskasernen…
    Letztere Idee bedarf aber genügend Fördermittel, weshhalb man bereits jetzt schon anfangen müsste.

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  2. ich möchte auch eine grüne Stadt und sehr gern essbar. Ich will Hinterhöfe zu Parks umbauen und Brauchflächen nutzen, Nachts die Autos abschleppen und die Straße aufbrechen..also die kleinen Nebenstraßen und begrünte Fassaden wären noch schön 😀 und sag mal echt nur ne halbe Stunde der Grünkohl? Ist das verdaubar? 😀

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